Maureen Argentino (42) unterstützt Personen, die sich in der Mitte ihres Lebens beruflich verändern wollen. In der viamia-Beratung spielt psychologisches Gespür ebenso eine wichtige Rolle wie eine gesunde Portion Realismus.
«Morgens um 7 Uhr habe ich gerade meinen obligatorischen und einzigen Kaffee des Tages getrunken und dazu ein Stück des Brotes gegessen, das mein Mann am Abend zuvor frisch gebacken hat. Dann starte ich in den Tag, wobei ich gedanklich noch weit weg von der Arbeit bin. Zuerst darf ich noch ganz Mutter sein: meine beiden Söhne wecken, ihnen das Znüni-Böxli und das Frühstücksbrot parat machen und ihnen dann einen wunderbaren Tag wünschen. Nachdem sie in Richtung Schule aufgebrochen sind, mache ich mich ebenfalls auf den Weg von unserem Wohnort Latterbach ins Berufsberatungs- und Informationszentrum BIZ Thun. Viele Leute in meinem Umfeld denken, dass die Autofahrt vom Simmental an den Thunersee mühsam sei. Aber ich bin schnell und immer ohne Stau an meinem Arbeitsort. Das Pendeln ist daher problemlos mit meinem Familienleben vereinbar.
Meistens bin ich um etwa 8 Uhr im Büro. So habe ich genügend Zeit für die letzten Vorbereitungen – Testauswertungen, Unterlagen und Arbeitsblätter ausdrucken –, bevor um 8.30 Uhr die erste Beratung beginnt. Diese Dokumente bespreche ich gemeinsam mit der Kundin respektive dem Kunden. Pro Tag habe ich drei bis vier Termine. Für einen Termin ist jeweils rund eine Stunde vorgesehen. Bei mir dauert er aber immer länger. Dazwischen verfasse ich die Protokolle und Berichte zu den Gesprächen oder lese mich für die nächsten Termine ein. Ich mache Beratungen für Schülerinnen und Schüler und auch für IV- und RAV-Kundinnen und -Kunden. Hauptsächlich widme ich mich jedoch viamia. Dies ist das Laufbahnberatungsangebot für über 40-Jährige, das vorerst bis Ende 2024 läuft.
Nach dem Psychologiestudium in Basel habe ich an der Universität Zürich eine Dissertation im Forschungsbereich der klinischen Kinder- und Jugendpsychologie verfasst. In diesen zwei Jahren habe ich aber rasch gemerkt, dass mir der Austausch und insbesondere der Beratungsteil fehlt. Daraufhin suchte ich selbst eine Laufbahnberatung auf. Mit dieser Unterstützung wurde mir klar, dass ich in diesem Bereich arbeiten möchte und ich habe mich schliesslich für diesen beruflichen Weg entschieden. Denn ich habe sehr gerne Kontakt mit den verschiedensten Menschen und erfahre ihre Geschichte. Meine Tätigkeit als Berufsberaterin startete ich bei der IV-Berufsberatung des Kantons Aargau. Dann wechselte ich in die öffentliche Beratung. Seit 2020 bin ich im BIZ Thun, zuvor war ich im BIZ in Basel-Stadt tätig.
Das Besondere an viamia ist, dass die Kundinnen und Kunden schon viel Lebenserfahrung mitbringen. Sie stehen an einem Punkt im Leben, an dem sie sich fragen: Mache ich noch einmal eine berufliche Veränderung? Wage ich sogar einen kompletten Neuanfang? Im Alltag nehmen sich die Menschen in der Regel nicht die Zeit dafür, sich mit solchen Fragen vertieft auseinanderzusetzen. In der Beratung, die pro Person jeweils bis zu vier Termine beinhalten kann, gehe ich mit meinen Kundinnen und Kunden auf Entdeckungsreise. Wir decken gemeinsam auf, welche Kompetenzen sie mitbringen. Dies herauszufinden, verleiht ihnen ein positives Gefühl und gibt ihnen Mut. Einige trauen sich erst dann, beispielsweise frühere Kontakte wiederzubeleben und anzufragen, ob sie diesen oder jenen Beruf vor Ort einmal kennen lernen dürfen. In der Beratung können auch Prägungen aufgedeckt oder Glaubenssätze hinterfragt werden, die sich über die Zeit festgesetzt haben. Negative Glaubenssätze wie «Ich bin nicht gut genug» blockieren einen oftmals. Sie hindern einen daran, neue Wege zu gehen.
Gleichzeitig ist die realistische Betrachtung ein wichtiger Teil der Beratung: Wir klären ab, was überhaupt machbar ist. Mit über 40 hat man Verpflichtungen und kann sich eventuell nicht komplett neu erfinden. Doch Veränderungen sind ebenso in kleinerem Rahmen möglich, sodass sie mit der aktuellen Lebenssituation vereinbar sind. Manchmal stellen wir auch fest, dass es im Privaten Baustellen gibt, die zuerst angegangen werden müssen. Wer gerade eine Trennung hinter sich hat, möchte sich beispielsweise im Moment zuerst um eine neue Wohnung kümmern, bevor berufliche Veränderungen angestrebt werden. Diese ganzheitliche Betrachtung und Beratung macht viamia so besonders.
Die Laufbahnberatung für über 40-Jährige bringt viele spannende Begegnungen mit sich. Einmal kam eine Frau zu mir in die Beratung, die seit vielen Jahren erfolgreich in der Kinderbetreuung arbeitete, aber dafür nicht ausgebildet war. Sie hatte keine Ausbildung gemacht, weil man ihr früher immer wieder zu spüren gegeben hatte, dass sie nichts könne. Wir haben dann ihre Fähigkeiten abgeklärt, auch mit Hilfe von kognitiven Tests. Dabei ist herausgekommen, dass sie über überdurchschnittliches Potenzial verfügt und die Voraussetzungen für eine Ausbildung ohne Einschränkungen erfüllt. Aufgrund der Ergebnisse fand sie schliesslich den Mut, das Angebot für eine Lehre von ihrem Arbeitgeber anzunehmen.
Bei viamia begleite ich mehr Frauen als Männer. Sie suchen bei einer beruflichen Veränderung eher den Weg über eine Beratung als Männer. Für mich ist wichtig, dass die Leute ins Handeln kommen. Das möchte ich mit ihnen erreichen. Wenn es nicht gelingt, frage ich mich: Hätte ich bei der Beratung etwas anders machen müssen? Eine Entwicklung findet bereits statt, wenn jemand nicht im Alten verharrt. Bei etwa 80 Prozent meiner Kundinnen und Kunden hat viamia eine Veränderung in irgendeiner Form bewirkt. Was man dabei nicht vergessen darf: Der Weg zur Veränderung ist nicht immer einfach. Ob es nun kleine Schritte sind, eine Weiterbildung, andere Aufgaben beim gleichen Arbeitgeber, eine neue Stelle in derselben Branche oder sogar etwas ganz Neues. Doch der Weg lohnt sich.
Die Zukunft der Beratung liegt aus meiner Sicht darin, verschiedene Zugänge zu den Menschen zu finden. Es lohnt sich, Neues auszuprobieren und das Repertoire der Methoden zu erweitern. Zum Beispiel indem narrative Methoden angewendet werden, also das Erzählen von Geschichten. viamia ermöglicht uns das. Bei vier Terminen stehen der Prozess und das Begleiten stark im Zentrum. Kundinnen und Kunden können besser reflektieren und am Schluss sagen: Ich treffe bewusst diesen Entscheid. In welche Richtung er dann auch immer geht.»
Aufgezeichnet von Philippe Blatter
Bild: Adrian Moser
Veröffentlicht am 29.6.2023