Anna Sonnen berät bei der Berner Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt Menschen in schwierigen Situationen. Sie leitet die Gewaltberatung sowie die Lernprogramme. Ihre Arbeit ist geprägt von Empathie, Engagement und dem Ziel, Menschen in schwierigen Situationen zu helfen und ihnen Orientierung zu geben. Dabei ist das übergeordnete Ziel stets Opfer zu schützen.

«Um 7 Uhr starte ich meinen Tag auf ganz unterschiedliche Weise. Heute habe ich ihn mit einem Cappuccino und einem Croissant aus einer italienischen Cafébar in der Rathausgasse begonnen – das Croissant war wunderbar knusprig. Meistens sitze ich aber um diese Zeit schon im Büro an der Kramgasse, starte den Computer und beginne zu arbeiten.
Ich habe 22 Jahre bei der Polizei gearbeitet. Angefangen habe ich in der Uniformtätigkeit beim Botschaftsschutz. Weitere Stationen waren die Verhandlungsgruppe, das Bedrohungsmanagement und der psychologische Dienst, was schliesslich zu meinem beruflichen Schwerpunkt wurde. Seit diesem Jahr bin ich bei der Berner Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt. Die Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt kenne ich schon sehr lange. All diese Tätigkeiten verbindet eine zentrale Gemeinsamkeit: die Arbeit mit Menschen. Genau das motiviert mich – die Möglichkeit, mit Menschen zu arbeiten und ihnen in unterschiedlichen Situationen zur Seite zu stehen. Besonders diejenigen, die in einer Krise stecken und mit Verzweiflung konfrontiert sind. Diese Menschen brauchen Verbindung. Ich kann das gut aushalten und ich bin gerne da, um sie zu stabilisieren. Mir gibt das auch viel zurück. Ich habe das Gefühl, dass ich mit meiner Arbeit zur Sicherheit der Menschen beitragen kann, und das ist mir eine Herzensangelegenheit.
Die Berner Interventionsstelle gegen häusliche Gewalt hat den Auftrag, häusliche Gewalt zu bekämpfen. Wir nehmen Stellung zu politischen Geschäften, fördern die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen und Behörden und unterstützen diese. Wir leisten Präventionsarbeit, indem wir Infomaterial und Publikationen herausgeben, oft in Zusammenarbeit mit anderen Fachstellen. Und schliesslich bieten wir Gewaltberatungen und Lernprogramme für gewaltausübende Menschen an, was in meinen Zuständigkeitsbereich fällt. Ich leite die Gewaltberatungen und führe selbst Beratungen durch. Das hilft mir, mich weiterzuentwickeln und meine Fachkenntnisse zu erweitern. Ein weiterer wichtiger Teil meiner Arbeit ist die Sensibilisierung und Unterstützung von Institutionen und Behörden sowie von Menschen, die sich intensiver mit dem Thema häusliche Gewalt auseinandersetzen möchten.
Unsere Beratungsangebote richten sich an alle Personen, die merken, dass sie Schwierigkeiten haben, Grenzen im häuslichen Kontext einzuhalten oder befürchten, gewalttätig zu werden. In den Beratungen geht es um die Dynamik der Gewalt, den Ausstieg daraus und viele zwischenmenschliche Themen. Diese Arbeit führt oft dahin, wo es weh tut, denn es braucht Mut, sich mit den eigenen Schwächen und Verhaltensmustern auseinanderzusetzen. Ich begleite die Menschen durch diese schwierigen Prozesse, halte mit ihnen aus und schaffe Verbindung zu ihnen, gerade dann, wenn sie mit Verzweiflung oder unangenehmen Einsichten konfrontiert sind. Ziel ist es, den Teilnehmenden zu helfen, ihr Verhalten zu verändern und gesündere Beziehungen zu gestalten, um so letztlich einen Beitrag zum Opferschutz zu leisten.
Das grösste Problem bei der häuslichen Gewalt ist nach wie vor das Tabu. Viele Menschen sind von häuslicher Gewalt betroffen, doch je nach Gewaltform ist es weder für die Betroffenen noch für die Ausübenden einfach, das Problem zu erkennen. Häusliche Gewalt hat so viele Gesichter: psychische, soziale, wirtschaftliche oder sexualisierte Gewalt. Am klarsten ist physische Gewalt, weil man hier deutlich sehen kann, wann eine Grenze überschritten wurde. Doch die anderen Formen von Gewalt sind oft schwammig und werden selten thematisiert. Für viele bleibt Gewalt ein grosses Geheimnis, selbst wenn sie ihr Leben prägt. Besonders herausfordernd sind Zeiten wie die Adventszeit: Die dunklen Tage, hohe Erwartungen an ,,perfekte’’ Feiertage und das enge Zusammenleben schaffen ein Umfeld, in dem Konflikte eskalieren können. Das hat sich auch während Corona gezeigt, als die Zahlen häuslicher Gewalt vielerorts gestiegen sind. Trotz dieser Realität gibt es Fortschritte in der Sichtbarkeit von häuslicher Gewalt. Medien, Kampagnen und Fachstellen tragen dazu bei, dass das Thema mehr ins öffentliche Bewusstsein rückt. Es wird immer klarer, dass häusliche Gewalt Menschen aus allen Altersgruppen und Lebensbereichen betrifft. Für mich fühlen sich die Fortschritte zwar noch wie kleine Schritte an, aber gleichzeitig erkenne ich, dass sie einen grossen Unterschied machen. Auch die gesellschaftliche Haltung verändert sich: Wo früher Ablehnung herrschte, bleibt man heute im Dialog und sucht nach Lösungen. Das ist ein ermutigendes Zeichen und ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.»
Aufgezeichnet von Gil Lafranchi
Bild: Adrian Moser
Veröffentlicht am 5. Dezember 2024