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Von Bern nach Samos – Ein Jahr im europäischen Asylsystem

In ihrem Berufsalltag als Co-Leiterin des Bereichs Asyl und Flüchtlinge des Kantons Bern hat es Sarah Zemp mit Menschen zu tun, die am Ende ihrer Fluchtroute angekommen sind. Nun wird die Migrationsexpertin für ein Jahr im Auftrag der EU in einem Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Samos arbeiten, wo viele Menschen zum ersten Mal ihren Fuss auf europäischen Boden setzen.

Ihr Einstieg ins Sozialwesen war kein geradliniger. Aufgewachsen in einem Umfeld, in dem kulturelle Vielfalt selbstverständlich war, übernahm die 34-Jährige früh Verantwortung in ihrer Gemeinde. Ihre Mutter engagierte sich in der Integrationskommission und unterrichtete Deutsch als Zweitsprache. Sarah wurde früh zur Ansprechperson für Familien mit Fluchterfahrung.

Ihr Studium in Politikwissenschaft und Recht, ergänzt durch einen Master in internationalen Beziehungen und Völkerrecht, führte sie zunächst in andere Tätigkeitsfelder. Den Einstieg ins Asylwesen fand sie über ihre Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Fachverantwortliche für das Dossier der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) beim Kanton Bern. Es war ein Quereinstieg, der rasch zur Berufung wurde.

Unterwegs zwischen Systemen und Kulturen

Was heute nach einem mutigen Schritt klingt, ist für Sarah Zemp schon fast ein natürlicher Prozess. Das Internationale hat sie schon immer angezogen. Durch Studium, Praktika und berufliche Stationen lebte und arbeitete sie bereits an vielen Orten. Sie ist neugierig auf andere Lebensrealitäten, neue Perspektiven und das Zusammenspiel unterschiedlicher Systeme. «Ich habe den Stellenbeschrieb gelesen und wusste sofort: Sie suchen mich.»

Auch in ihrem Umfeld sorgt die Entscheidung kaum für Aufsehen, man ist es gewohnt, dass Sarah für eine gewisse Zeit geht und mit neuen Eindrücken zurückkommt. Die letzten Tage vor der Abreise nutzt sie neben dem Organisatorischen, um sich in Ruhe zu verabschieden, und bei ein paar Apéros noch einmal in vertrauter Runde anzustossen.

Vom Ende zurück zum Anfang

Während sie und andere Fachpersonen im Kanton Bern oft das Ende einer Fluchtbewegung begleiten, wird Sarah Zemp in Griechenland den Anfang miterleben. Der Einsatz auf Samos ermöglicht ihr einen Einblick in genau jene erste Etappe der Migrationskette, die im beruflichen Alltag in der Schweiz häufig ausgeblendet bleibt. «Bei uns in Bern ist es oft das Ende einer langen Reise. In Griechenland aber setzen die Menschen zum ersten Mal Fuss auf europäischen Boden.»

Zwischen Recht, Alltag und Menschlichkeit

In ihrer aktuellen Funktion als Co-Leiterin des Bereichs Asyl & Flüchtlinge steht sie an der Schnittstelle von Asylrecht, Integrationsauftrag und Sozialhilfegesetz. Ihr Arbeitsalltag ist anspruchsvoll, nicht nur organisatorisch, sondern auch emotional. Was Sarah Zemp hilft, ist ein starkes Team, ihre Erfahrungen und das Bewusstsein, dass auch kleine Fortschritte zählen.

Auf Samos wird vieles anders sein als in Bern. Dort wird Sarah Zemp weitgehend allein arbeiten ohne Team und ohne direkte Vorgesetzte vor Ort. Als National Migration Management Expertin wird sie die Situation auf der griechischen Insel beobachten, sich mit Akteuren vernetzen und den Bedarf an Ressourcen analysieren. Ihre Aufgabe ist es, eine Verbindung zwischen lokalen Gegebenheiten und der europäischen Verwaltungsebene herzustellen und vor Ort als Augen- und Ohrenpaar für die EU wirken. 

Aufbauarbeit inmitten europäischer Komplexität

Die Lage auf Samos ist komplex: In der europäischen Asylpolitik sind viele Akteure beteiligt, doch oft fehlt die Übersicht. Sarah Zemp wird herausfinden müssen, was funktioniert, was fehlt und wo konkrete Verbesserungen möglich sind. Beruflich bedeutet das: weniger feste Struktur, ein anderes Tempo und noch mehr Eigenverantwortung. Sie wird ihren Alltag selbst gestalten, Beziehungen knüpfen, Vertrauen zu Menschen vor Ort aufbauen und vieles mit Athen und Brüssel abstimmen. Gleichzeitig hofft sie privat auf ein entschleunigteres Leben, und vielleicht auch den einen oder anderen Tag am Meer.

Perspektivwechsel statt Ausbruch

Der Einsatz ist für Sarah Zemp kein Ausbruch aus dem Bestehenden, sondern ein bewusst gewählter Perspektivwechsel. Ihre Stelle in Bern bleibt bestehen. Dass der Kanton Bern ihr Vorhaben unterstützt, ist für sie alles andere als selbstverständlich: Es ist ein starkes Zeichen nicht nur des Vertrauens, sondern auch dafür, dass Expertise vor Ort gefragt ist. «Ich glaube an diese kleinen Schritte. Das Zeichen, das die Schweiz setzt, ist wichtig: dass wir nicht einfach nur Geld schicken und sagen: «Ja, macht mal», sondern dass wir mit dem Geld auch unsere Fachleute schicken.» Teil dieses Engagements sein zu dürfen, empfindet sie als Privileg.

Zwischen Inselalltag und europäischer Realität

Bevor der Einsatz auf Samos beginnt, führen sie erste Stationen nach Brüssel und Athen. Wie es auf der Insel weitergeht, weiss sie nur in groben Zügen, aber genau das reizt sie auch. Die zwölf Monate begreift sie als Ausnahmezeit, die Spuren hinterlassen darf. Sie hofft, mit einem tieferen Verständnis, neuen Gedanken und einem geschärften Blick an ihre Arbeit in Bern zurückzukehren.

Nicht zuletzt erhofft sie sich von diesem Jahr auch einen umfassenderen Blick auf das europäische Asylsystem. Im Berufsalltag entsteht oft das Gefühl, man bewege sich nur innerhalb seines «eigenen Gärtleins». Die Zeit auf Samos soll helfen, diese Sicht zu weiten, raus aus der vertrauten Struktur, hin zu einem Verständnis, das Zusammenhänge erkennt, Widersprüche aushält und das grosse Ganze stärkt. 

Text: Gil Lafranchi
Bild: Adrian Moser
Veröffentlicht am 21.5.2025

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