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Halbzeit auf Samos

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Seit einem halben Jahr arbeitet Sarah Zemp, Asylkoordinatorin und Co-Leiterin des Bereichs Asyl und Flüchtlinge in Bern, auf der griechischen Insel Samos. Als Policy Officer für die EU-Kommission lebt und arbeitet sie während eines Jahres in unmittelbarer Nähe zu einem der Brennpunkt der europäischen Migrationspolitik, dort, wo viele Menschen zum ersten Mal europäischen Boden betreten.

«Ich bin die Augen und Ohren der EU-Kommission vor Ort»: So beschreibt Sarah Zemp ihre Arbeit für die Task Force Migration Management auf der griechischen Insel Samos. Sie beobachtet, wie die von der EU finanzierten Mittel im Flüchtlingscamp eingesetzt werden, ob Abläufe und Strukturen mit europäischem Recht und Richtlinien vereinbar sind und wo es Verbesserungsbedarf gibt.

Dafür erstellt sie regelmässig Berichte für Athen und Brüssel, verfasst Briefings, beantwortet parlamentarische Anfragen und Bürgerbriefe und liefert einen Lagebericht zu drei Inseln gleichzeitig: Samos ist ihr Hauptstandort, dazu kommen regelmässige Dienstreisen in die Camps auf Kos und Leros. Die operative Verantwortung bleibt bei den griechischen Behörden, den EU-Agenturen und den NGOs vor Ort. Sarahs Rolle ist es, zu beobachten, einzuordnen und zu vernetzen.

Ein Alltag ohne Drehbuch

Einen typischen Arbeitstag gibt es kaum. Sarah arbeitet allein auf der Insel, ohne eigenes Team. Ihre direkten Kolleginnen und Kollegen sitzen in Athen oder Brüssel. Struktur gibt ihr vor allem der straffe Reporting-Rhythmus: Alle zwei Wochen fällt ein umfangreicher Bericht an, dazwischen sogenannte Flash-Reports bei besonderen Ereignissen.

Der Rest ist Beziehungsarbeit im besten Sinn: fast täglich im Camp, zwischendurch im Büro des Bürgermeisters, bei der Polizei, der Küstenwache oder bei lokalen und internationalen NGOs. Viele Treffen entstehen spontan. Nicht nur weil die griechische Alltagskultur weniger terminfixiert ist, sondern auch, weil sich Informationen in diesem Umfeld selten planen lassen. «Es ist eine der Herausforderungen meines Alltags: null Struktur, ich gebe mir alles selber vor», sagt sie dazu. Klassische 9-to-5-Arbeitszeiten sind auf Samos kaum möglich.

Aktuell beschäftigen sie Themen wie die Vorbereitung auf den Winter im Camp, ausreichend Heizmöglichkeiten, Decken und Kleidung sowie die Frage, ob und wie sich verändernde Fluchtrouten, etwa über Kreta, auf die Inseln auswirken. Gleichzeitig hält sie engen Kontakt nach Athen und Brüssel, um Beobachtungen einzuordnen und Prioritäten abzustimmen.

Zwischen Lagerrealität und Inselidylle

Sarah verbringt ihre Arbeitstage in einem Umfeld, das sich nur schwer aus der Distanz fassen lässt: ein Camp mit einer Kapazität von über 3'600 Plätzen, Geschichten von langen und traumatischen Fluchtwegen, ungewissen Verfahren und Warteschleifen. In Ausnahmesituationen kommt es auch zu Spannungen, gar Demonstrationen oder Protesten. Einmal wurden etwa Steine gegen den Container geworfen, in denen EU-Vertretungen untergebracht sind. Solche Situationen gehen nicht spurlos an Sarah vorbei.

Gleichzeitig erlebt sie Samos als Inselparadies: Wandern, Baden, Essen mit Freundinnen und Freunden und das langsamere «siga siga», das griechische «alles zu seiner Zeit». Genau diese Haltung hilft ihr, die emotionale Belastung ihres Arbeitsalltages zu verarbeiten und nach einem intensiven Tag im Camp wieder herunterzufahren. «Es ist nicht immer einfach, aber die ergänzende Leichtigkeit der Insel macht es möglich, dass dieses Jahr als positive Erfahrung in Erinnerung bleibt», sagt sie.

Ein Satz eines Jobcoaches im Camp ist ihr besonders geblieben: ««Ich bin nicht dein Freund, ich bin zu deinen Diensten hier». Für Sarah bringt das auf den Punkt, wie professionelle Nähe und notwendige Distanz zusammengehen können, ein Gedanke, den sie aus ihrer Arbeit in der Schweiz gut kennt und der ihr nun hilft, sich in der täglichen Begegnung mit den Bewohnenden des Camps zu schützen.

Koordination statt grosser Gesten

Konkrete Veränderungen entstehen auf Samos selten durch einen grossen Entscheid, sondern durch hartnäckiges Nachstossen und viele kleine Anpassungen im System. Sarah kommuniziert und koordiniert mit sämtlichen Akteuren im Migrationsbereich, vom Camp Management und den Asylbehörden über NGOs bis hin zu UNO-Organisationen, und erleichtert so deren Zusammenarbeit. In gemeinsamen Sitzungen werden Zuständigkeiten geklärt, Doppelspurigkeit reduziert und Lücken benannt, zum Beispiel, wenn es darum geht, wer auf bestimmte Bedarfe der Campbewohnenden reagiert.

Manchmal übernimmt sie vor Ort auch sehr praktische Rollen: Sie springt kurzfristig als französischsprachige Übersetzerin ein, wenn sonst niemand zur Verfügung steht, oder unterstützt Initiativen von Mitarbeitenden im Camp gegenüber dem Management, etwa für gemeinsame Putzaktionen oder Informationsangebote. Als Vermittlerin im Hintergrund vernetzt sie flexibel die verschiedenen Akteure und holt deren Bedürfnisse ab, auch wenn nicht jeder Einsatz, etwa als spontane Französischübersetzerin am Info Point, explizit in ihrem Mandat steht. So trägt ihre Arbeit ganz konkret dazu bei, dass Strukturen funktionieren und Menschen sich gehört fühlen.

Auch im Austausch mit den griechischen und europäischen Sicherheitsbehörden erweitert sie ihren Blick: Ein besonderer Höhepunkt war ein Tag auf See mit der Küstenwache und Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex, bei dem sie den Alltag auf Patrouillen kennenlernen konnte, inklusive unerwartetem Nebenschauplatz wie der Aufdeckung illegaler Fischerei.

Was bleibt nach dem Einsatzjahr?

Noch ist Sarah mitten im Einsatzjahr, doch die Bilanz der ersten Hälfte fällt klar aus: Sie sammelt nicht nur Daten, sondern auch Erfahrungen, die sie nach Bern als Bereichsleiterin Asyl und Flüchtlinge im Amt für Integration und Soziales der kantonalen Gesundheits- und Integrationsdirektion mitnehmen wird. Sei es zu Governance-Fragen im Migrationsbereich, zur Rolle von EU-Agenturen, zur Zusammenarbeit zwischen Verwaltung, Sicherheitskräften und NGOs und nicht zuletzt zu ihrer eigenen beruflichen Rolle.

Persönlich hat sie vor allem eines bestätigt: Sie arbeitet sehr gerne im Team. Gerade weil sie auf Samos weitgehend allein für die Kommission steht, schätzt sie den täglichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, der momentan vor allem virtuell stattfindet, umso mehr und freut sich darauf, diese Energie später wieder in ein physisches Team einzubringen. Gleichzeitig spürt sie, wie sehr ihr Resilienz, Struktur und Schweizer Zuverlässigkeit helfen, in einem dynamischen Umfeld mit wenig Planbarkeit handlungsfähig zu bleiben.

Und etwas will sie sich bewusst bewahren, wenn sie nach Bern zurückkehrt: ein Stück «siga siga», die Ruhe, Dinge Schritt für Schritt anzugehen, ohne den Blick für das grosse Ganze zu verlieren. Wenn Sarah im kommenden Jahr zurückkommt, bringt sie deshalb mehr mit als nur Berichte und Kennzahlen: nämlich einen geschärften Blick auf das europäische Asylsystem, ein dichtes Netzwerk an Kontakten entlang der griechischen Aussengrenze und viele Geschichten aus einem Alltag zwischen Lagerrealität und Inselparadies, die künftig in ihre Arbeit im Berner Asyl und Flüchtlingswesen einfliessen werden.

Text: Benedict Wüthrich
Bild: Sarah Zemp
Veröffentlicht am 23.12.2025

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